Ein Krieg in Eis und Schnee

09.02.2018 - Eine solche Front hatte es zuvor noch nicht gegeben. Mit der Kriegserklärung Italiens an Österreich-Ungarn am 23. Mai 1915 (NZZ v. 24. Mai 1915, PDF), einem Pfingstsonntag, entstand eine Frontlinie mitten im Hochgebirge. Die Grenze zwischen dem Königreich und dem Kaiserreich verlief quer durch die Dolomiten. Doch bevor Menschen und Material auf Stellungen in bis zu 3000 Metern Höhe geschafft wurden, setzten beide Seiten auf ein bewährtes Vorgehen: Der Krieg in den Alpen begann als Krieg der Festungen. Österreich-Ungarn und Italien hatten zuvor robuste Festungswerke errichtet, vor allem auf den Hochebenen von Folgaria und Lavarone, knapp zwei Autostunden südöstlich von Trient gelegen.

Von den österreichischen Festungswerken war Lusern am exponiertesten. Während die sechs übrigen Anlagen in einer gedachten Reihe angeordnet waren, konnte Lusern durch die italienischen Festungen von drei Seiten angegriffen werden. Der zwischen 1908 und 1912 errichtete Bau in 1548 Metern Höhe liegt etwa einen Kilometer oberhalb des gleichnamigen Ortes mit heute 300 Einwohnern, einer deutschen Sprachinsel in der Provinz Trient. Auf einem idyllischen Weg geht es an Feldern vorbei, durch einen Wald und über Almwiesen. Stefania Schir vom örtlichen Büro der Region Alpe Cimbra macht den Besucher auf Vertiefungen im Boden rechts und links des Wegs aufmerksam: «Das sind kleinere Bombentrichter, die immer noch sichtbar sind.» Ausserdem finden sich immer wieder Überreste von Schrapnellgeschossen, einer Artilleriewaffe, deren Geschosshülle mit Metallkugeln gefüllt ist, die nach vorne Richtung Ziel geschleudert werden.

Die heutige Ruine wirkt immer noch mächtig. Angelegt als wuchtiges Dreieck, von einem Graben umgeben, erstreckte sich die Festungsanlage über drei Stockwerke; das oberste ist weitgehend zerstört. Die Ruine wurde bis in die jüngste Zeit gesichert, ist aber derzeit geschlossen. Der Bürgermeister hat den Bau für die Besichtigung ausnahmsweise öffnen lassen. Von der ursprünglichen Ausstattung ist nur wenig erhalten, vereinzelt sieht man Halterungen für Stromleitungen, in den Gängen steht Wasser. Im obersten Stock brach durch den italienischen Beschuss die Stahlbetondecke ein. Die zu Kriegsbeginn rund 230 Soldaten Besatzung – hinzu kamen 60 Mann in zwei vorgelagerten Verteidigungsanlagen – waren meterdick in Beton und Stahl eingeschlossen. Die damalige Bewaffnung zeugt von der zunehmenden Industrialisierung des Krieges: vier schwere Turmhaubitzen, zwei Kanonen und insgesamt neunzehn Stellungen für Maschinengewehre.

Früher Beschuss

Bereits einen Tag nach der Kriegserklärung Roms an Wien beschossen die Italiener die Festung Lusern mit schwerem Geschütz. «In vier Tagen wurden mehr als 5000 Schuss gezählt», erläutert Schir. Der bekannte Bergsteiger und Regisseur Luis Trenker war damals als k. u. k. Soldat im benachbarten Fort Verle stationiert. In seinem autobiografischen Werk «Rocca Alta» heisst es zur Lage in Lusern unmittelbar nach Kriegsausbruch: «Seit drei Tagen und Nächten hat kein Mensch mehr geschlafen, die Offiziere waren durch die andauernden Detonationen innerhalb der Werkmauern völlig apathisch geworden. Von einem Augenblick zum anderen befürchteten sie durch die Explosion der Benzin- und Munitionslager ihr totales Ende.» Bis zum Mai 1916 gab es drei grosse Beschiessungen. Nach einer Verschiebung der Front spielten die Festungen faktisch keine Rolle mehr; zunehmend wichtig wurden nun mobile Stellungen.

«Nur wer die Berge hat, hat auch die Täler.» Nach diesem Grundsatz bezogen die Militärs an der Front zwischen Österreich-Ungarn und Italien im Ersten Weltkrieg bis dahin weisse Flecken auf der Karte vollständig in die Planungen ein. Die rund 775 Kilometer lange Front zog sich vom Stilfser Joch an der Schweizer Grenze über die Dolomiten, die Karnischen Alpen bis zum Isonzo-Gebiet hin und weiter zur Adria. Die italienische Kriegserklärung brachte Österreich-Ungarn in eine schwierige Lage. Die Soldaten des Kaiserreichs rieben sich bereits an den Fronten in Galizien und Serbien auf. Die neue Front liess sich im Wesentlichen nur durch rund 30 000 Standschützen sichern, eine Art letztes Aufgebot, bestehend vorwiegend aus jungen Burschen und Greisen. Erst nach und nach wurden die Stellungen im Hochgebirge bezogen. Ab dem Winter 1916/17 waren die Gebirgsstellungen auf über 3000 Metern Höhe dann durchgehend besetzt.

Überreste solcher Stützpunkte finden sich noch viele in der Region. Je höher die Stellung, desto mehr ist heute, ein Jahrhundert später, von der Ausstattung erhalten. Von Lusern bald vier Autostunden in nordöstlicher Richtung entfernt liegt Sexten im Hochpustertal, im äussersten Osten Südtirols. Auf der Sextner Rotwand kämpften Truppen aus Österreich-Ungarn, Italien und Deutschland. Ausserdem wurden viele russische Kriegsgefangene an diesem Frontabschnitt eingesetzt, als Träger für Waffen und Material sowie beim Bau etwa von Soldatenbaracken oder Seilbahnen zur Versorgung der Höhenstellungen. Von der Bergstation der Kabinenbahn Rotwand gelangt man auf einem schmalen Weg, ursprünglich in jener Zeit von Soldaten angelegt, zum «Freilichtmuseum 1915–1917». Unterwegs macht Sigrid Wisthaler vom Verein Bellum Aquilarum (Krieg der Adler), der das Freilichtmuseum erschlossen hat, auf Halterungen für Telefonkabel aufmerksam, die noch immer an mehreren Bäumen angebracht sind. «Telefonleitungen gab es bis in die höchsten Stellungen hinauf», sagt die Historikerin während der Wanderung, bei der es 500 Höhenmeter hinaufgeht. In der Ferne ist die Drei-Zinnen-Hütte zu sehen, die vor den gleichnamigen berühmten Dolomitengipfeln steht.

Standardisierte Ausstattung

Das Ziel ist eine Kaverne auf der Anderter Alpe, eine Höhenstellung im Fels auf rund 2100 Metern. Sie war Teil einer Verteidigungsanlage, die ausserdem Schützengräben, eine Soldatensiedlung, eine Baracke für die medizinische Erstversorgung und mehrere Seilbahnen zur Versorgung weiterer Stellungen umfasste. Die Maschinengewehrstellung ist nach einem Beschuss eingestürzt. Zwei Wände der aus Holzbrettern bestehenden Austäfelung sind weitgehend erhalten, viele Bretter liegen auf dem Boden der Kaverne herum, auch ein Stück Ofenrohr und verrottete Konservendosen. Für mehrere MG-Schützen gibt es Aussparungen im Felsen. Wenig später, beim Überqueren eines Geröllfeldes hin zu gemauerten Verteidigungsstellungen, ist der Weg gesäumt von Überresten der höher gelegenen Stellungen: Bretter, Stacheldraht, Patronenhülsen, auch Schuhsohlen oder Teile von Porzellantassen, die von Offizieren stammen.

Die Ausstattung erfolgte immer nach dem gleichen Muster: «Die Aussenwände bestanden aus zwei Lagen von Brettern, dazwischen Dachpappe, damit nicht so viel Feuchtigkeit in den Raum eindringen sollte. Drinnen waren Stockbetten, Tisch und Stühle und ein Herd, der auch als Gasofen genutzt wurde», erläutert Wis­thaler. Die Bretter wurden unten im Tal vorbereitet, nummeriert und von Mauleseln und ab 2000 Höhenmetern von Kriegsgefangenen oder den Soldaten selbst hinaufgetragen.

Den Kampf fochten die Soldaten nicht nur mit dem Feind aus, der oft in Sichtweite war. Eis und Schnee, Lawinenabgänge, Temperaturen im Winter von bis zu 40 Grad unter null, das Risiko eines Absturzes, Steinschlag und Gewitter machten den Soldaten zu schaffen, die nach den Worten Wisthalers auf die Bedingungen im Hochgebirge oft gar nicht vorbereitet waren. Teilweise hätten die Soldaten auch die Austäfelungen der Kavernen verheizt. Die schwersten Lawinenabgänge in der Region ereigneten sich im Winter 1916/17. Allein für den Zeitraum vom 5. bis zum 14. Dezember geben offizielle Zahlen für Österreich 1300 Tote und 650 Verletzte an.

Schwieriger Nachschub

Ein Problem für sich war die Versorgung der Höhenstellungen. Munition und Lebensmittel mussten unter schwierig- sten Umständen dorthin transportiert werden. Geschütze wie Kanonen oder Haubitzen wurden, soweit möglich, in Einzelteile zerlegt und in äusserst gefährlichen Aktionen in die Höhe gebracht. «Eine Höhenstellung, die nur über Träger versorgt wurde, benötigte in der Regel dreimal so viele Träger wie kämpfende Soldaten», erläutert Wisthaler.

Ihr Urgrossvater Karl Ausserhofer war auch an der Hochgebirgsfront eingesetzt; die Historikerin hat das Kriegstagebuch ihres Ahnen veröffentlicht. Der Bauer und zeitweilige Bürgermeister von Luttach/Weissenbach im Nordosten Südtirols war an der umkämpften Sextner Rotwand stationiert. Ausserhofer führte dort in 2000 Metern Höhe einen kleinen Trupp der Feldwache, die den Ausbau der Verteidigungsanlagen sichern sollte. Dabei kam es häufig zum Beschuss. So notiert er am 24. Juni 1915: «. . . abends sind wir von einer feindlichen Patrolle angeschossen worden ohne zu treffen, haben alle müssen ausrüken zur Verfolgung haben nicht mehr gesehen dafür bis auf die Haut naß geworden». Die erhöhte Gefahrenlage vermerkt Ausserhofer eher indirekt: «Es ist jetzt nicht mehr ganz geheuer hier» (27. August 1915).

«Jeder hat vom Krieg genug»

Gut vier Wochen später, für Ausserhofer ist der 14. Kriegsmonat vorbei, beschreibt dieser die gespannte Atmosphäre und die Friedenssehnsucht der Soldaten: «Ist jetzt alle Tage ein langer Befehl wie sich die Manschaft zu verhalten hat, jeder soll stramm sein, niemand darf krank werden, ob die Leute die Richtige Verpflegung haben u. für die kalte Jahreszeit die entsprechende Bekleidung vorhanden ist, darnach fragt niemand der Mensch ist heute viel weniger wie ein Tier, wegen jeder Kleinigkeit wird mit Erschießen gedroht, es ist daher kein Wunder daß jeder vom Krieg mehr als genug hat.»

Auch das Innere der Berge wurde im sogenannten Minenkrieg zum Schauplatz der Auseinandersetzungen. Wenn die Besetzung eines Berges zum wiederholten Mal nicht gelang, gruben die Soldaten Stollen aus. So wurde etwa der Gipfel des Col di Lana in der Nacht vom 17. auf den 18. April 1916 von den Italienern in die Luft gesprengt (NZZ v. 5.5.1916, PDF), die Österreicher wiederum brachten am Pasubio in den Ostalpen eine Sprengladung vom 55 Tonnen Dynamit zur Explosion. Die Verluste unter den Soldaten waren durch den Minenkrieg auf beiden Seiten hoch, der strategische Nutzen des Vorgehens allerdings war gering.

Um sich vor den natürlichen Gefahren und dem Beschuss besser zu schützen, trieben die Soldaten mancherorts ganze Stollensysteme in die Berge. So etwa an der Marmolata, mit 3343 Metern der höchste Berg der Dolomiten und gut zwei Autostunden in südwestlicher Richtung von Sexten entfernt, an der Grenze zur Region Venetien. Der Gletscher des Gratrückens bildete seinerzeit die Frontlinie. Im Eis selbst, bis zu 40 Meter unter der Gletscheroberfläche, errichteten die Österreicher in den Jahren 1916 und 1917 eine ganze Barackensiedlung, die auch als «Eisstadt» bezeichnet wird. Das Labyrinth aus Gängen, Räumen und ganzen Sälen beherbergte unter anderem Schlafräume, Munitionsdepots, Unterstände und Gletscherstellungen. Die Ausdehnung betrug insgesamt 12 Quadratkilometer, bei Höhenunterschieden von bis zu 1000 Metern. Zur Orientierung hatten die Tunnel Namen wie Kaffee Zentral, Kärtnerstrasse oder Stephansdom, die an die österreichische Hauptstadt Wien erinnern sollten.

Das nicht mehr erhaltene Stollensystem wird im Museo Marmolada Grande Guerra dokumentiert, das in die Zwischenstation einer Seilbahn auf 2950 Metern Höhe integriert ist. Die grossen Fenster des Museums eröffnen eine atemberaubende Aussicht auf die umliegende Gebirgslandschaft. Richtet man seinen Blick nur wenige Meter weiter, schaut man auf eine ganze Reihe von italienischen Stellungen, die begehbar sind. Das multimediale Konzept des Museums geht über die Präsentation von Fundobjekten hinaus, wie dies in der Region vielerorts gemacht wird. Vielmehr sollen Interessierten unter anderem die dramatischen Umstände, denen die Soldaten damals ausgesetzt waren, vor Augen geführt werden. Das geschieht ganz handfest, indem der Besucher etwa hinter einer Klappe sich eisige Luft um die Hand wehen lassen kann. Eine gleichsam hautnahe Begegnung mit dem damaligen Kriegsgeschehen ermöglichen aber auch die Tagebuchaufzeichnungen von Soldaten, die den Besucher durch die Ausstellung begleiten.

Im Hochgebirge erstarrte der Konflikt schnell zu einem Stellungskrieg, in dem kaum Geländegewinne erzielt wurden. In der zwölften und letzten Isonzo-Schlacht im Oktober 1917 (NZZ v. 29.10.1917, PDF) setzten die österreichischen Truppen mit deutscher Hilfe erstmals bei Flitsch/Karfreit (italienisch: Caporetto) Giftgas ein. Viele italienische Soldaten starben, im Königreich sprach man später von der «Schmach von Caporetto». Den Österreichern gelang es, mehr als hundert Kilometer bis zum Fluss Piave im Flachland des Veneto vorzustossen, der damit ab Mitte November 1917 zur neuen Frontlinie wurde. Am Jahrestag von Caporetto trug die italienische Armee in der Schlacht von Vittorio Veneto schliesslich den Sieg davon. In der Villa Giusti bei Padua stimmten die Österreicher am 3. November einem Waffenstillstand zu.

Obwohl der Kampf in schwindelerregender Höhe nicht kriegsentscheidend war, regt gerade die Alpenfront immer noch die Phantasie der Menschen an. Für die Region bedeuteten die Kämpfe eine tiefe Zäsur, von der die Reste der Festungsanlagen und Höhenstellungen, viele örtliche Museen, aber auch Soldatenfriedhöfe und Beinhäuser bis heute zeugen.
 
 
 
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